Der
frische Wind weht kühl durch ihr Haar. Sie steht still da, fast verloren
zwischen den Gräberreihen. In Händen hält sie eine Terracotta-Schale, bepflanzt
mit Vergissmeinnicht und kleinen Rosen.
All
die schreiend bunten Werbeflyer und auf Gefühle oder schlechtes Gewissen
abzielenden Spots huschen durch ihren Kopf. Niedlich gekleidete Kinder mit
einem einstudierten Gedicht auf den Lippen und die dazugehörigen Väter mit ein
wenig Unbehagen in der Miene oder pflichtschuldig absolvierte Besuche mit einem
krampfhaft ausgesuchten Geschenk im Arm oder vielleicht überhaupt verweigerte
Besonderheit für diesen speziellen Tag, den Muttertag.
Nein,
sie selbst hat das nie erlebt und würde es auch nie, es war ihr nicht vergönnt
worden – von wem auch immer; ihrem Körper, ihrem zu wenig vorhandenen Wunsch, dem
Schicksal?
Sie
blinzelt die Tränen weg, als all die Erinnerungen auf sie einstürzen. Die
Strenge, manchmal Unbarmherzigkeit, das oftmals liebevolle Lächeln, die herausfordernden
Worte, die Belehrungen, das gelegentliche Lob und die Ambivalenz der gesamten Gefühlspalette.
Sie hätte alles, wirklich alles nochmals zurückzuholen gewünscht; doch der Sand
der Zeit war durch das Glas der Uhr geronnen, unwiederbringlich.
Kalt läuft es über ihren
Rücken, sie fröstelt. Ist ein Leben wirklich erst zu Ende, wenn alle Kurven auf
Überwachungsmonitoren eine gerade Linie bilden? Oder endet es nicht schon viel
früher, wenn nichts – nicht einmal mehr die Stimmen von geliebten Menschen –
mehr das Bewusstsein zu durchdringen scheinen? Wenn nur mehr ein Körper,
abgezehrt und verheert von Krankheit und bis zur Unkenntlichkeit den
Erinnerungen entfremdet, vor einem liegt. Wenn Hilflosigkeit absolut wird und
Ausgeliefertsein die einzige Option ist. Wenn sich die Augen schließen, weil
das Sehen unerträglich ist und nichts Erleichterung bringt, keine Tränen, kein
Gebet, einfach nichts. - Gerüche und Bilder von Ende und Auflösung im
Gedächtnis verankert, mit Fragen und Antworten zu einem sich immer schneller
drehenden Karussell verbunden.
Ihre Finger tasten über den
weiß-schwarzen Marmor, stellen den Blumengruß ab, der auf der großen Deckplatte
so verloren, ja unbeholfen wirkt. Die
Kühle des Steins kriecht durch ihre Adern und wie Eis umklammert es ihr Herz. Die
Wolken am Himmel werden immer dunkler, schwerer. Doch sie spürt nicht die
Tropfen auf ihrem Körper, die sich jetzt lautlos mit den Tränen auf ihren
Wangen vermischen. Langsam löst sich der Kreis ihres Denkens auf, zerrinnt in
Nichts, bis sie vollkommen leer ist.
Automatisch setzt sie
schließlich einen Schritt nach dem anderen – mit einem letzten Bick zurück,
voller Trauer, Verzweiflung und unsterblicher Liebe.