Der frische Wind wehte kühl durch
Hannas Haar. Still stand sie da, fast verloren zwischen den Gräberreihen. Starr
war ihr Blick auf den Grabstein vor ihr gerichtet, doch sie sah ihn nicht,
sondern nur die Bilder, die in ungeordneter, wirrer Folge durch ihren Kopf schossen.
Schreiend bunte oder kitschige Werbeflyer, auf eingemahnte
Gefühle oder schlechtes Gewissen abzielende TV- und Social Media-Spots. Seltsame
Interviews und herausgepresste Erinnerungen, zwischen amüsant, eigentümlich und
fremdgeschämt. Niedlich gekleidete
Kinder mit einem einstudierten Gedicht auf den Lippen und die dazugehörigen
Väter mit ein wenig Unbehagen in der Miene oder pflichtschuldig absolvierte
Besuche mit einem krampfhaft ausgesuchten Geschenk im Arm oder vielleicht
überhaupt verweigerte Besonderheit für diesen speziellen Tag, den Muttertag.
Ein nachsichtiges Lächeln,
eine strenge Miene, herausfordernde Worte, eifrige Belehrungen, eine zärtliche
Geste, seltenes Lob und umso mehr als Ansporn gedachter Tadel. – Ein Geist, der
sich immer mehr verwirrte. Augen, die sich fremd anfühlten und ein Körper, der
sich aller freundlichen, liebevollen Erinnerungen entzog, bis die Linie letztendlich
überschritten war. – Doch schon viel früher war Hanna das Sehen unerträglich
geworden und nichts hatte ihr Erleichterung gebracht, keine Tränen, kein Gebet,
einfach nichts.
Sie
hätte es zurückholen mögen, dieses unbeschwerte Lachen in Sevilla, dieses
übermütige Wandern in langen Nachthemden in Paris, dieses innige Singen und
Lesen im Advent. So viel, unendlich viel. Doch der Sand der Zeit war durch die
Uhr geronnen, zu schnell und unwiederbringlich.
Hannas Finger tasteten
über den weiß-schwarzen Marmor, zärtlich beinahe und gedankenverloren. Ihren
Blumengruß und das Licht würde sie dann Zuhause neben das Bild ihrer Mutter
stellen. Hier hatten sie nicht mehr ihren Platz.
Die
Kühle des Steins kroch durch ihre Adern und wie Eis umklammerte es ihr Herz. Sie
hatte alles verloren. Zuerst ihre Mutter, dann die Liebe ihres Vaters. Er hatte
sich von einer mehr als unwürdigen Frau, die sich jetzt als seine
Lebensgefährtin titulierte, einfangen lassen. Dabei hatten sie nie in einem
gemeinsamen Haushalt gelebt.
Und
jetzt gab es nicht einmal mehr ihr Erbe. – „Das wird sowieso alles einmal dir
gehören!“ – Wie Hohn klang der Nachhall dieser Beteuerungen in ihren Ohren.
Nichts war ihr geblieben als ein Geldanspruch. Ihres Vater Enterbung per
Testament zerbrach alle Erwartungen, alle Träume, alle Erinnerungen.
Ihr
Blumengruß zum Muttertag, im Gedenken auf die Grabplatte gestellt, würde umgehend
auf dem Mist landen; genauso wie ihr mit weißen Blumen geschmückter Kranz bei
Vaters Begräbnis. Das hatte sie nicht notwendig, keine weitere Erniedrigung,
keinen weiteren Hass.
Die
Wolken am Himmel wurden immer dunkler, schwerer. Doch Hanna spürte nicht die
Tropfen auf ihrem Gesicht, die sich jetzt lautlos mit den Tränen auf ihren
Wangen vermischten.
Langsam löste sich der Kreis ihres Denkens
auf, zerrann in Nichts, bis sie vollkommen leer war und sich schleppend vom
Friedhof entfernte. Ein letzter Blick zurück – voller Trauer, Verzweiflung und
unsterblicher Liebe.